Groys | post-communist condition

claudia westermann Claudia.Westermann at hfg-karlsruhe.de
Sun Jun 13 11:07:36 CEST 2004


for those who can read German I forward this text 
by Boris Groys which is also a shortened version 
of his presentation here: 
http://www.postcommunist.de/home/index.php?kat=veranstaltungen&subkat=kongrpro&lang=en

the text is published in the German edition of Le monde diplomatique

-c



http://www.monde-diplomatique.de/pm/2004/06/11/a0017.text.name,askO4RJnt.n,0

DIE GESCHICHTSSCHREIBUNG SUCHT EIN NEUES SUBJEKT

Die postkommunistische Lage

Verheerende Folgen hatte das Ende des Kalten 
Krieges in Afrika, wo die nach dem Zweiten 
Weltkrieg entstandenen Staaten, die lange durch 
die Konkurrenz der Großmächte gestützt wurden, zu 
verfallen drohen. Doch die Hinterlassenschaften 
des Kommunismus haben auch unsere Gesellschaften 
zutiefst geprägt. Der durch die Kommunistische 
Internationale aus den Angeln gehobene 
Nationalstaat sieht sich heute neuen 
internationalen Anfechtungen ausgesetzt.

Von BORIS GROYS  *

* Professor für Kunstwissenschaft, Philosophie 
und Medientheorie am ZKM, Karlsruhe. Er 
kuratierte die Berliner Ausstellung 
"Privatisierungen. Zeitgenössische Kunst aus 
Osteuropa" (Kunst-Werke). Zuletzt erschienen 
"Politik der Unsterblichkeit. Vier Gespräche mit 
Thomas Knöfel" (2002), und "Topologie der Kunst" 
(2004).



DIE Osterweiterung der Nato und der EU wird oft 
als das definitive Ende des Kalten Krieges 
interpretiert. Und oft wird dabei so getan, als 
ob der verschwundene Kommunismus bloß eine 
Unterbrechung, eine Pause, eine Verzögerung in 
der "normalen" Entwicklung der osteuropäischen 
Länder darstelle - eine Verzögerung, die nach 
ihrer Beendigung nichts anderes hinterlassen habe 
als einen gewissen "Nachholbedarf". Der 
Kommunismus erscheint aus dieser Perspektive 
wieder einmal als Gespenst. Über die 
postkommunistische Lage zu sprechen bedeutet 
dagegen, das historische Ereignis des Kommunismus 
ernst zu nehmen und sich ernsthaft zu fragen, 
welche Spuren vom Kommunismus geblieben sind, 
inwieweit die Erfahrung des Kommunismus unsere 
eigene Gegenwart immer noch prägt - aber auch: 
warum sich der Kommunismus als eine bloße 
historische Pause denken lässt. Diese 
Fragestellung betrifft übrigens nicht allein die 
vormals kommunistischen Länder, sondern die ganze 
Welt, deren gegenwärtige Lage man als eine 
postkommunistische bezeichnen kann.

Der Kommunismus ist lange Zeit bloß ein 
Versprechen, eine Utopie, eine gedankliche 
Konstruktion, eine politische Vision gewesen. 
Diese Vision hat eine große Geschichte aus 
Formulierungen und Reformulierungen - von Platon 
über Thomas Morus bis zum utopischen Sozialismus 
des 19. Jahrhunderts. Die Frage nach der 
Realisierbarkeit dieser Vision blieb während 
dieser langen Geschichte allerdings offen. Der 
Ort der kommunistischen Utopie war allein die 
Zukunft. Heute ist der Ort des Kommunismus die 
Vergangenheit: Der Kommunismus hat als ein reales 
Ereignis in der realen Geschichte stattgefunden. 
Die Tatsache, dass dieses Ereignis inzwischen 
abgeschlossen ist, macht gerade seine Realität 
aus.

Nun hört man allerdings immer wieder, dass das 
kommunistische Experiment des zwanzigsten 
Jahrhunderts keinen wahren Kommunismus 
hervorgebracht habe - vielmehr soll es sich beim 
realen Sozialismus sowjetischer Prägung um einen 
Verrat am kommunistischen Ideal gehandelt haben, 
um eine totalitäre Diktatur, die eine Parodie des 
Kommunismus und nicht seine wahre Realisierung 
dargestellt habe. Dementsprechend wird behauptet, 
dass die Erfahrung des realen Sozialismus für die 
Formulierung und Pflege des kommunistischen 
Ideals eigentlich gar keine Relevanz habe - 
weswegen man dieses traurige Schauspiel lieber 
gleich vergessen solle: Nicht allein aus einer, 
sagen wir, antikommunistischen Perspektive, 
sondern auch aus einer linken, prokommunistischen 
Perspektive präsentiert sich der reale 
Sozialismus des zwanzigsten Jahrhunderts demnach 
heute als eine bloße Verzögerung, als eine Pause 
in der Entwicklung des kommunistischen Ideals. 
Diese Diagnose klingt allerdings nur auf den 
ersten Blick überzeugend. Jede Realisierung eines 
abstrakten Ideals ist per definitionem ein Verrat 
an diesem Ideal - und die Länder des realen 
Sozialismus haben von sich aus niemals den 
Anspruch erhoben, den Kommunismus zu 
verwirklichen, sondern sie haben sich selbst 
lediglich als Übergangsformen auf einem sehr 
langen Weg hin zum Kommunismus begriffen.

           *


Als reales Ereignis in einer realen Geschichte 
ist der Kommunismus kein "System", keine 
"Formation" oder "Institution". Das Ereignis des 
Kommunismus besteht vielmehr in der Übertragung 
der Diskussion über den Kommunismus aus dem 
theoretischen Feld ins Feld der realen Politik. 
Zu diesem Ereignis gehören neben den 
verschiedenen kommunistischen Orthodoxien und 
Häresien auch der Antikommunismus, das 
Renegatentum und die Dissidenz. Mit dem Abschluss 
des kommunistischen Ereignisses hat sich die 
Diskussion erneut vom realpolitischen ins 
theoretische Feld verlagert. Allerdings ist eine 
postkommunistische Diskussion über den 
Kommunismus von der vorkommunistischen Diskussion 
über den Kommunismus grundverschieden. Denn alle 
Teilnehmer dieser theoretischen Diskussion wissen 
heute insgeheim, dass sie sich, sobald diese 
Diskussion unter Umständen wieder einmal ins 
reale politische Feld übergreift, in einem 
bereits bekannten Ereignis des Kommunismus 
wiederfinden - im gleichen Stück, das sie aus der 
Geschichte (immer) schon kennen. Die neue 
Aufführung dieses Stücks wird sicherlich anders 
verlaufen - die Rollen werden anders besetzt, 
einiges wird wahrscheinlich "besser" gemacht und 
anderes dagegen "schlechter" -, aber es wird sich 
trotzdem notwendigerweise um eine 
Wiederaufführung des gleichen Stücks handeln.

Eine gute Analogie dazu bieten die Bemühungen der 
mittelalterlichen Monarchien, einen christlichen 
Staat zu errichten. Es wäre unangemessen, diesen 
Monarchien vorzuwerfen, das "wahre Christentum" 
nicht verwirklicht zu haben, denn das Christentum 
selbst sieht sich allein im Reich Gottes 
vollständig verkörpert. Im Mittelalter wurde aber 
die Frage, wie man das Reich Gottes erreichen 
kann, zu einer politischen Frage - darum waren 
die mittelalterlichen Monarchien genuin 
christlich. Darum waren damals auch die 
Satanisten und Atheisten genuin christlich, denn 
sie gehörten ebenfalls zum christlichen Ereignis 
- so wie die Antikommunisten im Kalten Krieg zum 
Ereignis des Kommunismus gehörten, weil sie den 
Kommunismus als eine reale politische Option 
bekämpften und damit bestätigten. Heute ist das 
Christentum im Bereich der politisch 
unverbindlichen "Gewissensfreiheit" angesiedelt, 
aber man weiß, dass der mittelalterliche Streit 
um die Verwirklichung des christlichen Ideals auf 
Erden, sobald sich die Umstände ändern und die 
Religion erneut unmittelbare politische Relevanz 
bekommt, ebenfalls wieder genauso unmittelbare 
politische Aktualität erlangen wird.

Die postkommunistische Lage zeichnet sich aber 
zuallererst dadurch aus, dass die heutige 
politische Lage des Westens zunehmend auf die 
gleiche Weise empfunden und in gleichen Termini 
beschrieben wird wie damals der sowjetische 
Kommunismus - das heißt als realisierte Utopie 
bzw. als realisierte Antiutopie. Die 
Selbstbeschreibung des westlichen Kapitalismus 
als realisierte Utopie hat ihre Wurzeln in der 
Rhetorik des Kalten Krieges. Damals geriet der 
westliche Kapitalismus unter einen erheblichen 
Legitimationszwang, der dazu führte, dass sich 
der Westen mehr und mehr als eine Überbietung des 
kommunistischen Ideals der Weltöffentlichkeit 
empfahl.

Im neunzehnten Jahrhundert und noch in der ersten 
Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts galt der 
Kapitalismus allgemein als eine zwar ökonomisch 
effiziente, aber in moralischer Hinsicht 
ungerechte und unvollkommene Ordnung, die man 
allein deswegen zu akzeptieren hatte, weil die 
menschliche Natur in der immer noch ungebrochenen 
christlichen Perspektive als per se ungerechte 
und unvollkommene angesehen wurde. Erst im 
Verlauf des Kalten Krieges ist es allmählich zu 
einer vorbehaltlosen Apologie der real 
existierenden westlich-kapitalistischen Ordnung 
gekommen, die seitdem nicht bloß als Ort des 
ökonomischen Wohlstands, sondern zugleich als 
wahre Verkörperung der Menschenrechte, sozialer 
Solidarität, individueller kreativer Freiheit und 
höchster Moral gelten durfte.

In Zeiten des Kalten Krieges hat sich der Westen 
als Modell für die gesamte Welt empfohlen - als 
ein Modell, das genauso wie das kommunistische 
Modell weltweit exportiert werden konnte und 
sollte. Die Orwellsche Vision einer 
antiutopischen Welt der totalen Überwachung und 
des permanenten Ausnahmezustandes wurde als eine 
Satire auf die sowjetischen Verhältnisse 
verfasst, doch inzwischen hat sie ihre 
rhetorische Anwendung vor allem auf die aktuellen 
politischen Verhältnisse im Westen gefunden. Die 
kommunistische Forderung nach diesseitiger 
Realisierung der Utopie hat der traditionellen 
Politik einen Schlag versetzt, von dem sie sich 
aller Wahrscheinlichkeit nach niemals mehr 
erholen wird. Diese Forderung eröffnet nämlich 
die Möglichkeit, die vorhandene "Gesellschaft" in 
ihrer modellhaften Totalität als Ganzes zu 
akzeptieren oder zu negieren, wobei diese Wahl 
zwischen totaler Affirmation und totaler Negation 
für die traditionelle Politik keinen Raum mehr 
lässt. Früher waren es vor allem die Religionen, 
deren "Werte" man in ihrer Totalität akzeptieren 
oder negieren konnte - die Gesellschaft, so wie 
sie de facto existierte, bot nur die politischen 
Rahmenbedingungen für eine solche Wahl. Später 
waren es die universalistischen Werte der 
Aufklärung. In der postkommunistischen Lage sind 
es nun die einzelnen Gesellschaften selbst, die 
in ihrem Ganzen bestimmte Werte verkörpern müssen 
und als fertige Produkte auf dem internationalen 
politischen Markt angeboten werden - egal, ob es 
sich dabei um das europäische, das amerikanische 
oder das islamische Gesellschaftsmodell handelt.

           *


Darin besteht eigentlich die historische Leistung 
des Kommunismus: Er hat die Gesellschaft in ein 
Gesellschaftsmodell verwandelt. Das heißt: Er hat 
die Gesellschaft in ihrem Ganzen nicht als etwas 
historisch Gewachsenes und somit Singuläres 
gelten lassen, sondern er hat sie als eine 
künstliche Konstruktion begriffen, die von Land 
zu Land sowohl exportiert als auch importiert 
werden kann. Die eigentliche Zumutung des 
sowjetischen Experiments war die von Stalin 
erhobene und danach stets von der sowjetischen 
Führung wiederholte Behauptung, dass die 
Sowjetunion den Ort der verkörperten Utopie 
darstellt - wenn nicht im Sinne ihrer endgültigen 
Vollendung, dann zumindest im Sinne ihres 
effektiven Aufbaus. Um die Konkurrenz mit dem 
sowjetischen Kommunismus zu gewinnen, sahen sich 
seine Konkurrenten dazu gezwungen, sich diese 
Behauptung nicht nur zu Eigen zu machen, sondern 
sogar zu überbieten - und somit ihre eigenen 
Gesellschaften als Gesellschaftsmodelle neu zu 
definieren. Die heutige politische und kulturelle 
Lage ist die Folge dieser Überbietungskämpfe. Ein 
neutraler Raum zwischen Affirmation und Negation 
der einzelnen Gesellschaftsmodelle ist verloren 
gegangen - der Zwang zur Wahl hat zugenommen, die 
Frage nach der Unterscheidung zwischen Utopie und 
Antiutopie ist zur zentralen politischen Frage 
unserer Zeit geworden.

Anders ausgedrückt: Das Ereignis des Kommunismus 
hat eine Epoche des weltweiten, internationalen 
politischen Marktes der gesellschaftlichen 
Modelle eingeleitet. Jedes dieser Modelle preist 
sich als Utopie - und wird von der Konkurrenz als 
Dystopie denunziert. Und das bedeutet weiter: Die 
Urszene des kommunistischen Ereignisses 
wiederholt sich nicht nur dann, wenn der 
Kommunismus wieder einmal als eine reale Option 
gehandelt wird, sondern jedes Mal, wenn ein altes 
oder neues postnationales Projekt auf dem 
internationalen Markt der politischen Projekte, 
Modelle und Systeme angeboten wird. Postnational 
sind diese Projekte und Modelle in dem Sinne, 
dass sie sich aus dem nationalen Kontext lösen 
und international anbieten lassen. So wird das 
"europäische Projekt" von einigen als verkörperte 
Utopie der Menschenrechte, des Friedens und des 
Wohlstands gepriesen - und von anderen als Werk 
der finsteren Brüsseler Bürokratie zum Zweck der 
Errichtung eines Staates der totalen Überwachung 
und Kontrolle denunziert. Der islamische 
Fundamentalismus wird von seinen Gegnern als eine 
neue Verkörperung des kommunistischen Albtraums 
wahrgenommen - und von seinen Anhängern als 
universales Modell eines Gottesstaates auf Erden 
gepriesen. Man spricht über den Neobolschewismus 
der heutigen amerikanischen Neokonservativen usw.

Seit der Zeit, da der Nationalstaat seinen 
Siegeszug angetreten hat, ist der Kommunismus das 
Erste der postnationalen Gesellschaftsmodelle. 
Dies erklärt auch, warum sich dieses Ereignis im 
Kontext einer nationalen Geschichte bestenfalls 
als eine Pause, als eine bloße Unterbrechung 
situieren lässt. Jedes Ereignis ist ein Ereignis 
innerhalb einer Geschichte, die, um erzählt zu 
werden, einen Protagonisten haben muss. Wir leben 
heute aber immer noch in einem System der 
Nationalstaaten - unsere Geschichtsschreibung 
kann daher nur als Narrativ funktionieren, dessen 
Protagonist eine Nation, ein Nationalstaat ist. 
Ein Ereignis wird also für uns erst dann 
historisch, wenn es sich als eine Episode in der 
Geschichte einer Nation erzählen lässt. Nun war 
der Kommunismus programmatisch antinational. Sein 
Ziel war es, die überkommenen nationalen 
Unterschiede zu überwinden, existierende 
nationalkulturelle Identitäten abzuschaffen und 
stattdessen eine neue, globale, kommunistische 
Menschheit als Protagonistin einer neuen 
Geschichte zu stiften. Diese neue, postnationale 
Menschheit kam allerdings nicht zustande - oder 
löste sich vielmehr gleichzeitig mit dem 
Kommunismus auf. So hat das Ereignis des 
Kommunismus das geschichtliche Subjekt, den 
geschichtlichen Träger verloren, zu deren 
Geschichte es gehören könnte.

Da die Klassen zusammen mit dem Marxismus aus dem 
Blickfeld der heutigen Geschichtsschreibung 
verschwunden sind, bleiben nur die Nationen als 
"reale" Protagonisten der Geschichte übrig. 
Dementsprechend ist es für die neue 
Geschichtsschreibung der ehemals kommunistisch 
dominierten osteuropäischen Länder inzwischen 
charakteristisch geworden, im Kommunismus bloß 
die ideologische Fassade des russischen 
Imperialismus zu sehen.

Auch wenn diese Interpretation durch viele Fakten 
belegt zu sein scheint, darf dabei nicht 
vergessen werden, dass in Russland selbst die 
Unterdrückung der russischen nationalen Identität 
durch die kommunistischen ideologischen Apparate 
nicht weniger, wenn nicht sogar noch viel 
konsequenter praktiziert worden war. Sowohl die 
russische Kirche als auch die russische 
philosophische Tradition, Geschichtsschreibung 
und Literatur aus vorrevolutionären Zeiten wurden 
zum größten Teil verboten oder stark zensiert. Es 
wundert also nicht, dass die Abschaffung des 
kommunistischen Regimes Anfang der Neunzigerjahre 
auf den Straßen Moskaus durch den Aufschrei 
"Russland! Russland!" begleitet und angespornt 
wurde. Die russische antikommunistische 
Revolution wurde in jener Zeit als Kampf um 
nationale Befreiung geführt - um die Herauslösung 
Russlands aus der Sowjetunion, um die Befreiung 
Russlands vom Diktat der sowjetischen Behörden. 
Der Bürgerkrieg zwischen den Roten und den 
Weißen, der zur Erschaffung der Sowjetunion 
führte, war der Krieg zwischen der 
kommunistischen "Internationale" und dem 
nationalistischen "Russland". Damals hat die 
"Internationale" gewonnen. In den Achtziger- und 
Neunzigerjahren bekam "Russland" seine Revanche. 
Für die russischen Nationalisten von heute 
handelt es sich, wenn es um den Kommunismus geht, 
wiederum um das Werk anderer - der Juden, Letten, 
Georgier usw. Auch heute sind die russischen 
Nationalisten stolz auf die Errungenschaften des 
sowjetischen Staates während seiner 
kommunistischen Zeit - allerdings werden diese 
Errungenschaften allein den Fähigkeiten des 
russischen Volkes zugeschrieben, trotz der 
ruinösen kommunistischen Diktatur kreativ, 
widerstandsfähig und siegreich geblieben zu sein. 
Alles "Gute", das in der Sowjetzeit entstanden 
ist, wird somit der russischen 
national-kulturellen Identität zugeschrieben, 
alles "Schlechte" - den antinationalen Aspekten 
des Kommunismus.

Aus einer "realistischen" Perspektive der 
positivistischen Geschichtsschreibung, deren 
Protagonisten die Nationen sind, kann das 
universalistische Projekt des Kommunismus also 
nur als ein Projekt der Zerstörung, Unterwerfung 
und Beschädigung wahrgenommen werden. Das Gleiche 
gilt allerdings auch für alle anderen 
postnationalen Projekte. So sind wir unter den 
Bedingungen der postkommunistischen Lage mit 
einer eigentümlichen Schwierigkeit konfrontiert. 
Auf der einen Seite werden unterschiedliche 
gesellschaftliche Projekte, Modelle und Systeme 
weiterhin auf dem internationalen politischen 
Markt angeboten. Und mehr noch: Jedes 
gesellschaftliche Modell steht heute unter dem 
Druck, sich auf diesem internationalen Markt zu 
beweisen. Die gesellschaftlichen Modelle, die als 
nur für eine Nation geltend proklamiert werden, 
stehen heute zu Recht unter dem Verdacht, 
letztendlich rassistisch zu sein. Doch auf der 
anderen Seite fehlt uns immer noch eine 
Geschichtsschreibung, die als Geschichte der 
postnationalen, importierbaren und exportierbaren 
gesellschaftlichen Projekte und Modelle fungieren 
könnte - eine andere Geschichtsschreibung, deren 
Protagonisten nicht die angeblich 
naturgewachsenen Nationen, sondern "künstliche", 
ideologisch produzierte, allein durch gemeinsame 
politische Projekte zustande gekommene Völker - 
wie etwa das kommunistische Volk oder das 
europäische Volk - sein könnten. Erst eine solche 
andere Geschichtsschreibung wäre auch imstande, 
die leidige Frage nach der supranationalen 
"europäischen Identität" überflüssig zu machen - 
und stattdessen die Frage nach der künstlichen 
Neustiftung eines früher nie da gewesenen Volkes 
durch ein gemeinsames politisches Projekt 
aufzuwerfen.

© Le Monde diplomatique, Berlin




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