BORIS GROYS. "Die <pre>kommunistische Lage" (german)
Matze Schmidt
matze.schmidt at n0name.de
Mon Jun 14 17:29:25 CEST 2004
DIE GESCHICHTSSCHREIBUNG SUCHT EIN NEUES SUBJEKT<tagged>'n'Xed Vers. 0.2
Die <pre>kommunistische Lage<, Condition, Bedingung>
Verheerende Folgen hatte das Ende des Kalten
Krieges in Afrika, wo die nach dem Zweiten
Weltkrieg entstandenen Staaten, die lange durch
die Konkurrenz der Großmächte gestützt wurden, zu
verfallen drohen. Doch die Hinterlassenschaften
des Kommunismus haben auch unsere Gesellschaften
zutiefst geprägt. Der durch die Kommunistische
Internationale aus den Angeln gehobene
Nationalstaat sieht sich heute neuen
internationalen Anfechtungen ausgesetzt< - ihn gilt es zu retten>.
Von BORIS GROYS *
* Professor für Kunstwissenschaft, Philosophie
und Medientheorie am ZKM, Karlsruhe. Er
kuratierte die Berliner Ausstellung
"Privatisierungen. Zeitgenössische Kunst aus
Osteuropa" (Kunst-Werke). Zuletzt erschienen
"Politik der Unsterblichkeit. Vier Gespräche mit
Thomas Knöfel" (2002), und "Topologie der Kunst"
(2004).
DIE Osterweiterung der Nato und der EU wird oft
als das definitive Ende des Kalten Krieges
interpretiert. Und oft wird dabei so getan, als
ob der verschwundene Kommunismus bloß eine
Unterbrechung, eine Pause, eine Verzögerung in
der "normalen" Entwicklung der osteuropäischen
Länder darstelle - eine Verzögerung, die nach
ihrer Beendigung nichts anderes hinterlassen habe
als einen gewissen "Nachholbedarf". Der
Kommunismus erscheint aus dieser Perspektive
wieder einmal als Gespenst. Über die
postkommunistische Lage zu sprechen bedeutet
dagegen, das historische Ereignis des Kommunismus<, das nie stattfand,
als Figur> ernst zu nehmen und sich <erfinderisch>ernsthaft zu fragen,
welche Spuren<, die wir einschreiben,> vom Kommunismus geblieben sind,
inwieweit die Erfahrung des Kommunismus unsere
eigene Gegenwart immer noch prägt - aber auch:
warum sich der Kommunismus als eine bloße
historische Pause denken lässt. Diese
Fragestellung betrifft übrigens nicht allein die
vormals kommunistischen Länder<wie wir sie nicht kannten>, sondern die ganze
Welt, deren gegenwärtige Lage man als eine
<pre>kommunistische bezeichnen kann.
Der Kommunismus ist lange Zeit bloß ein
Versprechen, eine Utopie, eine gedankliche
Konstruktion, eine politische Vision gewesen.
Diese Vision hat eine große Geschichte aus
Formulierungen und Reformulierungen - von Platon
über Thomas Morus bis zum utopischen Sozialismus
des 19. Jahrhunderts. Die Frage nach der
Realisierbarkeit dieser Vision blieb während
dieser langen Geschichte allerdings offen. Der
Ort der kommunistischen Utopie war allein die
Zukunft. Heute ist der Ort des Kommunismus die
Vergangenheit: Der Kommunismus hat als ein reales
Ereignis in der realen Geschichte stattgefunden.
Die Tatsache, dass dieses Ereignis inzwischen
abgeschlossen <sei>, macht gerade <nicht>seine Realität
aus.
Nun hört man allerdings immer wieder, dass das
kommunistische Experiment des zwanzigsten
Jahrhunderts keinen wahren Kommunismus
hervorgebracht habe - vielmehr soll es sich beim
realen Sozialismus sowjetischer Prägung um einen
Verrat am kommunistischen Ideal gehandelt haben,
um eine totalitäre Diktatur, die eine Parodie des
Kommunismus und nicht seine wahre Realisierung
dargestellt habe. Dementsprechend wird behauptet,
dass die Erfahrung des realen Sozialismus für die
Formulierung und Pflege des kommunistischen
Ideals eigentlich gar keine Relevanz habe -
weswegen man dieses traurige Schauspiel lieber
gleich vergessen solle: Nicht allein aus einer,
sagen wir, antikommunistischen Perspektive,
sondern auch aus einer linken, prokommunistischen
Perspektive präsentiert sich der reale
Sozialismus des zwanzigsten Jahrhunderts demnach
heute als eine bloße Verzögerung, als eine Pause
in der Entwicklung des kommunistischen Ideals.
Diese Diagnose klingt allerdings nur auf den
ersten Blick überzeugend. Jede Realisierung eines
abstrakten Ideals ist per definitionem ein Verrat
an diesem Ideal<selbst wenn es meine westlich-kapitalistische
Nomenklatura-Filosofie so schoen verdreht, ueberhoeht und ich eine
"Lage" daraus mache> - und die Länder des realen<?>
Sozialismus haben von sich aus niemals den
Anspruch erhoben, den Kommunismus zu
verwirklichen, sondern sie haben sich selbst
lediglich als Übergangsformen auf einem sehr
langen Weg hin zum Kommunismus begriffen.
*
Als reales Ereignis in einer realen Geschichte
ist der Kommunismus kein "System", keine
"Formation" oder "Institution". Das Ereignis des
Kommunismus besteht vielmehr in der Übertragung
der Diskussion über den Kommunismus aus dem
theoretischen Feld ins Feld der realen Politik<, die nicht die
der Besitzenden war>.
Zu diesem Ereignis gehören neben den
verschiedenen kommunistischen Orthodoxien und
Häresien auch der Antikommunismus, das
Renegatentum und die Dissidenz<, aber auch Hitler und die DeutscheBank
und ueberhaupt alle Banken>. Mit dem Abschluss
des kommunistischen Ereignisses<als Weg zum Kommunismus, wenn ich mich
richtig verstehe,> hat sich die
Diskussion erneut vom realpolitischen ins
theoretische Feld verlagert<. Und die Frage, ob der Kommunismus
stattgefunden hat oder nicht ist hiermit beantwortet: Er war ein
Trugbild, oder auch nicht, je nach dem wie es in eine Ausstellung
mit roten Teppichen passt.> Allerdings ist eine
postkommunistische Diskussion<, die zugleich eine prekommunistische ist> über den
Kommunismus von der vorkommunistischen Diskussion
über den Kommunismus grundverschieden.<Das bedeutet, dasz alle
real-sozialistischen Laender, die nicht kommunistisch waren, letztlich
zum kommunistischen Ereignis gehoerten, insofern sie nichtkommunistisch
waren.> Denn alle
Teilnehmer dieser theoretischen Diskussion wissen
heute insgeheim, dass sie sich, sobald diese
Diskussion unter Umständen wieder einmal ins
reale politische Feld übergreift, in einem
bereits bekannten Ereignis des Kommunismus
wiederfinden - im gleichen Stück, das sie aus der
Geschichte (immer) schon kennen. Die neue
Aufführung dieses Stücks<, das nicht mehr real war, als Theater,> wird sicherlich anders
verlaufen - die Rollen werden anders besetzt,
einiges wird wahrscheinlich "besser" gemacht und
anderes dagegen "schlechter" -, aber es wird sich
trotzdem notwendigerweise um eine
Wiederaufführung des gleichen Stücks handeln.<Womit ich endlich meine Position
als negativer Post-Strukturalist zu erkennen gebe, der an die Zwangslaeufigkeit von
Geschichte als Wiederkehr des immer selben Kommunismus aus dem
Fernsehen, beziehungsweise aus der Verzerrung der rellen Verhaeltnisse
glaubt. Tja, der Kommunismus hat eben doch verloren, Jesus hat gewonnen.>
Eine gute Analogie dazu bieten die Bemühungen der
mittelalterlichen Monarchien, einen christlichen
Staat zu errichten. Es wäre unangemessen, diesen
Monarchien vorzuwerfen, das "wahre Christentum"
nicht verwirklicht zu haben, denn das Christentum
selbst sieht sich allein im Reich Gottes
vollständig verkörpert. Im Mittelalter wurde aber
die Frage, wie man das Reich Gottes erreichen
kann, zu einer politischen Frage - darum waren
die mittelalterlichen Monarchien genuin
christlich. Darum waren damals auch die
Satanisten und Atheisten genuin christlich, denn
sie gehörten ebenfalls zum christlichen Ereignis
- so wie die Antikommunisten im Kalten Krieg zum
Ereignis des Kommunismus gehörten, weil sie den
Kommunismus als eine reale politische Option
bekämpften und damit bestätigten.<Vergessen wir mal Stalins Rolle als
Kommunismus- und Kommunistentoeter dabei, und konzentrieren uns auf die
anti-kommunistischen Ressentiments des kapitalistischen Westens, der
unter Kommunismus Stalins Dikatur verstand und keine Ahnung hatte warum
Trotzki ermordet wurde.> Heute ist das
Christentum im Bereich der politisch
unverbindlichen "Gewissensfreiheit" angesiedelt,
aber man weiß, dass der mittelalterliche Streit
um die Verwirklichung des christlichen Ideals auf
Erden, sobald sich die Umstände ändern und die
Religion erneut unmittelbare politische Relevanz
bekommt, ebenfalls wieder genauso unmittelbare
politische Aktualität erlangen wird.<Kommunismus war also nichts weiter
als ein saekularisierter Idealismus, dessen theoretische Entwuerfe
halbwegs wirklich wurden. Er war also der beruehmte falsche Film,
praesziser noch war er ein gefaelschter falscher Film.>
Die postkommunistische Lage zeichnet sich aber
zuallererst dadurch aus, dass die heutige
politische Lage des Westens zunehmend auf die
gleiche Weise empfunden und in gleichen Termini
beschrieben wird wie damals der sowjetische
Kommunismus - das heißt als realisierte Utopie
bzw. als realisierte Antiutopie. Die
Selbstbeschreibung des westlichen Kapitalismus
als realisierte Utopie hat ihre Wurzeln in der
Rhetorik des Kalten Krieges. Damals geriet der
westliche Kapitalismus unter einen erheblichen
Legitimationszwang, der dazu führte, dass sich
der Westen mehr und mehr als eine Überbietung des
kommunistischen Ideals der Weltöffentlichkeit<, die natuerlich nur aus
Menschen bestand, die mehr als 120,- EURO im Monat verdienten,>
empfahl.
Im neunzehnten Jahrhundert und noch in der ersten
Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts galt der
Kapitalismus allgemein als eine zwar ökonomisch
effiziente, aber in moralischer Hinsicht
ungerechte und unvollkommene Ordnung, die man
allein deswegen zu akzeptieren hatte, weil die
menschliche Natur in der immer noch ungebrochenen
christlichen Perspektive als per se ungerechte
und unvollkommene angesehen wurde. Erst im
Verlauf des Kalten Krieges ist es allmählich zu
einer vorbehaltlosen Apologie der real
existierenden westlich-kapitalistischen Ordnung
gekommen, die seitdem nicht bloß als Ort des
ökonomischen Wohlstands, sondern zugleich als
wahre Verkörperung der Menschenrechte, sozialer
Solidarität, individueller kreativer Freiheit und
höchster Moral gelten durfte.
In Zeiten des Kalten Krieges hat sich der Westen
als Modell für die gesamte Welt empfohlen - als
ein Modell, das genauso wie das kommunistische
Modell weltweit exportiert werden konnte und
sollte. Die Orwellsche Vision einer
antiutopischen Welt der totalen Überwachung und
des permanenten Ausnahmezustandes wurde als eine
Satire auf die sowjetischen Verhältnisse
verfasst, doch inzwischen hat sie ihre
rhetorische Anwendung vor allem auf die aktuellen
politischen Verhältnisse im Westen gefunden. Die
kommunistische Forderung nach diesseitiger
Realisierung der Utopie hat der traditionellen
Politik< der Sklaventreiber> einen Schlag versetzt, von dem sie sich
aller Wahrscheinlichkeit nach niemals mehr
erholen wird. Diese Forderung eröffnet nämlich
die Möglichkeit, die vorhandene "Gesellschaft" in
ihrer modellhaften Totalität als Ganzes zu
akzeptieren oder zu negieren, wobei diese Wahl
zwischen totaler Affirmation und totaler Negation
für die traditionelle Politik keinen Raum mehr
lässt. Früher waren es vor allem die Religionen,
deren "Werte" man in ihrer Totalität akzeptieren
oder negieren konnte - die Gesellschaft, so wie
sie de facto existierte<, aber als ausbeuterische von den Massen nicht
realisiert, also wahrgenommen wurde>, bot nur die politischen
Rahmenbedingungen für eine solche Wahl<, die keine war - wenn wir uns an
die enteigneten Landarbeiter erinnern>. Später
waren es die universalistischen Werte der
Aufklärung. In der postkommunistischen Lage sind
es nun die einzelnen Gesellschaften selbst, die
in ihrem Ganzen bestimmte Werte verkörpern müssen
und als fertige Produkte auf dem internationalen
politischen Markt angeboten werden - egal, ob es
sich dabei um das europäische, das amerikanische
oder das islamische Gesellschaftsmodell handelt.<Damit sind die groszen
Bewegungen des Kapitalismus und des Kommunismus am Ende einer
heute Markenlogo-Geschichte, die sich nun wie Ware aus dem Supermarkt leicht konsumieren laesst.>
*
Darin besteht eigentlich die historische Leistung
des Kommunismus: Er hat die Gesellschaft in ein
Gesellschaftsmodell verwandelt. Das heißt: Er hat
die Gesellschaft in ihrem Ganzen nicht als etwas
historisch Gewachsenes und somit Singuläres
gelten lassen, sondern er<, der monolithische Kommunismus, er der Vater
der Voelker> hat sie<faelschlicherweise> als eine
künstliche Konstruktion begriffen, die von Land
zu Land sowohl exportiert als auch importiert
werden kann<, was voellig a-historisch und fetischistisch gedacht ist,
denn die 'Konstruktion' ist keine Ingenieurleistung, wie wir sie aus
meinen gereinigten Ausstellungen rund ums Nation-Building kennen, sie entsteht nicht mit CAD. Sie
ist vielmehr - wenn kommunistisch - eine permanente Entwicklung>. Die eigentliche Zumutung des
sowjetischen Experiments war die von Stalin
erhobene und danach stets von der sowjetischen
Führung wiederholte Behauptung, dass die
Sowjetunion den Ort der verkörperten Utopie
darstellt - wenn nicht im Sinne ihrer endgültigen
Vollendung, dann zumindest im Sinne ihres
effektiven Aufbaus. Um die Konkurrenz mit dem
sowjetischen Kommunismus zu gewinnen, sahen sich
seine Konkurrenten dazu gezwungen, sich diese
Behauptung nicht nur zu Eigen zu machen, sondern
sogar zu überbieten - und somit ihre eigenen
Gesellschaften als Gesellschaftsmodelle neu zu
definieren. Die heutige politische und kulturelle
Lage ist die Folge dieser Überbietungskämpfe. Ein
neutraler Raum zwischen Affirmation und Negation
der einzelnen Gesellschaftsmodelle ist verloren
gegangen - der Zwang zur Wahl hat zugenommen, die
Frage nach der Unterscheidung zwischen Utopie und
Antiutopie ist zur zentralen politischen Frage
unserer Zeit geworden.<Denn diese dumme Sicht auf das was "utopisch"
heiszen kann, naemlich das, was nirgendwo liegt, verstrahlt die Optionen
auf die tatsaechliche Befreiung von Politik als
Ereignishaftigkeitsfolgen, gleichsam als Schicksal von Oben (den oberen
Etagen), und als Kommando. Zudem verkennt diese Diagnose der Situation,
dasz diese Konkurrenz der Gesellschaftsmodelle nur das ideologische Parkett
ist, auf dem sich die Praesidenten mit ihren Auszenministern im Gefolge
der Wirtschaftsbosse bewegen.>
Anders ausgedrückt: Das Ereignis des <abstrakten>Kommunismus
hat eine Epoche des weltweiten, internationalen
politischen Marktes der gesellschaftlichen
Modelle eingeleitet.<Und ich schreibe das im nunmehr traditionsreichen
Stil einer sozilogistischen Dialektik, die, woran sie glaubt, auch
empirisch erkennt.> Jedes dieser Modelle preist
sich als Utopie - und wird von der Konkurrenz als
Dystopie denunziert. Und das bedeutet weiter: Die
Urszene des kommunistischen Ereignisses
wiederholt sich nicht nur dann, wenn der
Kommunismus wieder einmal als eine reale Option
gehandelt wird, sondern jedes Mal, wenn ein altes
oder neues postnationales Projekt auf dem
internationalen Markt der politischen Projekte,
Modelle und Systeme angeboten wird<, womit alle nichtnationalen Ideen
hiermit wunderschoen diskreditiert waeren>. Postnational
sind diese Projekte und Modelle in dem Sinne,
dass sie sich aus dem nationalen Kontext lösen
und international anbieten lassen. So wird das
"europäische Projekt" von einigen als verkörperte
Utopie der Menschenrechte, des Friedens und des
Wohlstands gepriesen - und von anderen als Werk
der finsteren Brüsseler Bürokratie zum Zweck der
Errichtung eines Staates der totalen Überwachung
und Kontrolle denunziert. Der islamische
Fundamentalismus wird von seinen Gegnern als eine
neue Verkörperung des kommunistischen Albtraums
wahrgenommen - und von seinen Anhängern als
universales Modell eines Gottesstaates auf Erden
gepriesen. Man spricht über den Neobolschewismus
der heutigen amerikanischen Neokonservativen usw.<Vom Kapitalismus kann
ich selbst nicht sprechen, da ich ihm ja angehoere.>
Seit der Zeit, da der Nationalstaat seinen
Siegeszug angetreten hat, ist der Kommunismus das
Erste der postnationalen Gesellschaftsmodelle.
Dies erklärt auch, warum sich dieses Ereignis<als Modell, als Staat, als
Bewegung,> im
Kontext einer nationalen Geschichte bestenfalls
als eine Pause, als eine bloße Unterbrechung
situieren lässt. Jedes Ereignis ist ein Ereignis
innerhalb einer Geschichte, die, um erzählt zu
werden, einen Protagonisten haben muss. Wir leben
heute aber immer noch in einem System der
Nationalstaaten - unsere Geschichtsschreibung
kann daher nur als Narrativ funktionieren, dessen
Protagonist eine Nation, ein Nationalstaat ist. <Ob wir wollen oder
nicht, wir brauchen mich als Maerchenonkel, der diese Geschichten
erzaehlt.>
Ein Ereignis wird also für uns erst dann
historisch, wenn es sich als eine Episode in der
Geschichte einer Nation erzählen lässt<, und wir die widerspenstigen echolotischen
Geschichten der Individual- und Kollektivhistorien neben der Nationebene nichten>. Nun war
der Kommunismus programmatisch antinational. Sein
Ziel war es, die überkommenen nationalen
Unterschiede zu überwinden, existierende
nationalkulturelle Identitäten abzuschaffen und
stattdessen eine neue, globale, kommunistische
Menschheit als Protagonistin einer neuen
Geschichte zu stiften. Diese neue, postnationale
Menschheit kam allerdings nicht zustande - oder
löste sich vielmehr gleichzeitig mit dem
Kommunismus<, der ja jetzt im Laufe dieses Textes stattfand,> auf. So hat das Ereignis des
Kommunismus <(s.o.)> das geschichtliche Subjekt, den
geschichtlichen Träger verloren, zu deren
Geschichte es gehören könnte.<Das Subjekt der Geschichte war
verschwunden, weil alle diese dummen Bananen kaufen gingen. Kein
Bewusztsein, keine Klassen, hehe!>
Da die Klassen zusammen mit dem Marxismus aus dem
Blickfeld der heutigen Geschichtsschreibung
verschwunden sind, bleiben nur die Nationen als
"reale" Protagonisten der Geschichte übrig.
Dementsprechend ist es für die neue
Geschichtsschreibung der ehemals kommunistisch
dominierten osteuropäischen Länder inzwischen
charakteristisch geworden, im Kommunismus bloß
die ideologische Fassade des russischen
Imperialismus zu sehen.<[Dennoch existieren Klassen XXXXX XXXX. Der
Kapitalismus XXX XXXXXX Ausbeutung XXX Profit XXX XXXX, und produziert
XXXX XXXXXXXXX XXXXXXXXX XXX Fortschritt. Der Rest dieser Passage wurde zensiert, der Autor.]>
Auch wenn diese Interpretation durch viele Fakten
belegt zu sein scheint, darf dabei nicht
vergessen werden, dass in Russland selbst die
Unterdrückung der russischen nationalen Identität
durch die <super-realen>kommunistischen ideologischen Apparate
nicht weniger, wenn nicht sogar noch viel
konsequenter praktiziert worden war. Sowohl die
russische Kirche als auch die russische
philosophische Tradition, Geschichtsschreibung
und Literatur aus vorrevolutionären Zeiten wurden
zum größten Teil verboten oder stark zensiert. Es
wundert also nicht, dass die Abschaffung des
kommunistischen Regimes Anfang der Neunzigerjahre
auf den Straßen Moskaus durch den Aufschrei
"Russland! Russland!" begleitet und angespornt
wurde. Die russische antikommunistische<, genauer:
anti-hyperkommunistische>
Revolution wurde in jener Zeit als Kampf um
nationale Befreiung geführt - um die Herauslösung
Russlands aus der Sowjetunion, um die Befreiung
Russlands vom Diktat der <sogenannten>sowjetischen Behörden.
Der Bürgerkrieg zwischen den Roten und den
Weißen, der zur Erschaffung der Sowjetunion
führte, war der Krieg zwischen der
kommunistischen "Internationale" und dem
nationalistischen "Russland". Damals hat die
"Internationale" gewonnen. In den Achtziger- und
Neunzigerjahren bekam "Russland" seine Revanche.
Für die russischen Nationalisten von heute
handelt es sich, wenn es um den Kommunismus geht,
wiederum um das Werk anderer - der Juden, Letten,
Georgier usw. Auch heute sind die russischen
Nationalisten stolz auf die Errungenschaften des
sowjetischen Staates während seiner
<mega>kommunistischen Zeit - allerdings werden diese
Errungenschaften allein den Fähigkeiten des
russischen Volkes zugeschrieben, trotz der
ruinösen <cyber>kommunistischen Diktatur kreativ,
widerstandsfähig und siegreich geblieben zu sein.
Alles "Gute", das in der Sowjetzeit entstanden
ist, wird somit der russischen
national-kulturellen Identität zugeschrieben,
alles "Schlechte" - den antinationalen Aspekten
des Kommunismus.
Aus einer "realistischen" Perspektive der
positivistischen Geschichtsschreibung, deren
<kapitalistische>Protagonisten die Nationen sind, kann das
universalistische Projekt des Kommunismus also
nur als ein Projekt der Zerstörung, Unterwerfung
und Beschädigung wahrgenommen werden<, weil wir Kommunismus, als Event
verstehen, und nicht als Befreiung vom Kapital>. Das Gleiche
gilt allerdings auch für alle anderen
postnationalen Projekte. So sind wir unter den
Bedingungen der postkommunistischen Lage mit
einer eigentümlichen Schwierigkeit konfrontiert.
Auf der einen Seite werden unterschiedliche
gesellschaftliche Projekte, Modelle und Systeme
weiterhin auf dem internationalen politischen
Markt angeboten. Und mehr noch: Jedes
gesellschaftliche Modell steht heute unter dem
Druck, sich auf diesem internationalen Markt zu
beweisen. Die gesellschaftlichen Modelle, die als
nur für eine Nation geltend proklamiert werden,
stehen heute zu Recht unter dem Verdacht,
letztendlich rassistisch zu sein. Doch auf der
anderen Seite fehlt uns immer noch eine
Geschichtsschreibung, die als Geschichte der
postnationalen, importierbaren und exportierbaren
gesellschaftlichen Projekte und Modelle fungieren
könnte - eine andere Geschichtsschreibung, deren
Protagonisten nicht die angeblich
naturgewachsenen Nationen, sondern "künstliche",
ideologisch<aus dem Labor mit irren Wissenschaftlern> produzierte, allein durch gemeinsame
politische Projekte zustande gekommene Völker -
wie etwa das kommunistische Volk oder das
euro<,->päische Volk - sein könnten. Erst eine solche
andere Geschichtsschreibung wäre auch imstande,
die leidige Frage nach der supranationalen
"europäischen Identität" überflüssig zu machen -
und stattdessen die Frage nach der künstlichen
Neustiftung eines früher nie da gewesenen Volkes
durch ein gemeinsames politisches Projekt
aufzuwerfen<, deren Beantwortung "Krieg" lautet - im Kosovo, im Irak und
vielleicht bald in Syrien.
Solange wir Kulturalisten unseren Geldgebern aber
die Fassade der Kultur aufrechterhalten, so lange
wird nicht anders werden, und das ist gut so>.
© Le Monde diplomatique, Berlin
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