Soeben erschienen: Diskrete Netze und Medien

yaak karsunke scum at blogwar.org
Thu Jan 13 12:35:46 CET 2005


In der Medientheorie-Debatte der rohrpost und auch im Wiki war oft die  
Rede davon, daß "Medien" ein unscharfer, unzureichend umrissener  
Begriff sei. In der Zwischenzeit bin ich auf einen Definitionsvorschlag  
von Hartmut Winkler gestoßen, der beim ersten Lesen sofort einleuchtet,  
bei längerem Nachdenken jedoch weiterhin Fragen aufwirft. Hier ein  
Versuch, den Begriff historisch aufzuschlüsseln:

Der Begriff "Medium" stammt nicht erst aus der Physik des 19.  
Jahrhunderts und ist nicht nur eng mit dem (naturwissenschaftlich  
überholten) Konzept des Äthers verknüpft – viel näher liegt z.B. die  
Anfangs des vergangenen Jahrhunderts entwickelte Theorie des  
Magnetismus. Siehe dazu auch Mesmers bahnbrechende, stark an LeBon  
orientierte Arbeit "Massenmagnetismus und Hypermnesie".

Der Begriff des Äthers wird in metaphorischer Form nur noch für das  
Radio und andere Funktechniken gebraucht, z.B. wenn davon die Rede ist,  
etwas vom "über den Äther zu schicken". Diese Vorstellung existiert  
implizit auch im kommunikationswissenschaftlichen Modell vom Medium als  
Mittelstrecke zwischen Sender und Empfänger einer Botschaft, wie es  
Anfang des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Varianten (u.a. im  
Strukturalismus, z.B. bei Jakobson, und in der angloamerikanischen  
Linguistik und Semiotik, z.B. bei Richards) formuliert wurde.

Die Computerkultur hat einen vergleichsweise präzisen Begriff von  
"Medium" bzw. "Medien" im Sinne von materiell soliden, in sich  
abgeschlossenen Speichern und Leitern, die von einer Lese-, Schreib-  
und Steuerungshardware abgekoppelt sind, bzw. materielle Komponenten  
der letzteren bilden. Zu deutsch: Ein CD-Rohling ist ein Medium, ein  
CD-Laufwerk nicht und ein Computer schon gar nicht. Ein Halbleiter ist  
ein Medium, ein Chip jedoch nicht. Ebenso wenig ist, im Unterschied zum  
Äther-Modell, eine Funkstrecke ein Medium – die Funkwellen hingegen  
schon (ähnlich dem tierischen Magnetismus).

Das Wort Medientheorie geht auf McLuhan zurück, auch wenn der Begriff  
des "Mediums" im Sinne einer Kommunikations- und Kulturtechnik bereits  
früher, z.B. in Kracauers "Theorie des Films" von 1960 zu finden ist.  
Leider hat McLuhan eher zur Verwirrung, denn zur Differenzierung des  
Begriffs beigetragen, indem er z.B. elektrisches Licht und  
Handfeuerwaffen als Medien analysiert. "Medium" ist für McLuhan somit  
weitgehend synonym mit Formen der Telefonie im allgemeinen, und wird  
von ihm nur mit der Einschränkung versehen, daß es Technik als  
Extension menschlicher Fähigkeiten beschreibe. – Cronenbergs "Crash"  
z.B. ist eine sehr weit gedachte, praktische Meditation dieser Theorie.

Die Frage ist jedoch, inwiefern dies nicht auf sämtliche Technik  
zutrifft und Medientheorie in diesem Sinne schlicht eine  
Kulturgeschichte der Technik ist. In diese Richtung scheint  
zeitgenössische deutsche Medienforschung, wie sie z.B. am Karlsruher  
Zentrum für Kunst- und Medientechnologie betrieben wird, zu tendieren.

Ein zweite Art der Medientheorie und -forschung begreift Medien  
wörtlich als Netze im Sinne von Shannons Informationstheorie und  
analysiert die kulturelle Implikationen von Leiterbahnen, elektrischen  
Aufzeichnungstechniken und Schaltungen. Dies trifft für die von  
Friedrich Kittler und seinen Schülern in den 80er und 90er Jahren  
proklamierte Medienwissenschaft zu. Allerdings metonymisiert letztlich  
auch sie den Begriff des Mediums, wenn sie z.B. von Radio und Computer  
als Medien spricht, und nicht bloß von Funkwellen und Halbleitern.

Eine dritte Art der Medienforschung begreift "Medium" schlicht als  
Kürzel für "neues Medium". In den 1960er war ihr Hauptgegenstand Radio  
und Film, in den 1970er und 80er Jahren Fernsehen und Video, in den  
1990er Jahren Computer und Internet. Diese Medienwissenschaft firmiert  
als allgemeine geisteswissenschaftliche Rand- und  
Experimentaldisziplin, die alles beherbergt, was aus dem Raster  
etablierter geistes- und kunstwissenschaftlicher Disziplinen fällt.  
Analoges gilt für "Medienkunst" im Verhältnis zu zeitgenössischer  
Ausstellungskunst.

Eine vierte Art der Medienforschung leitet sich aus der dritten ab: Aus  
kritischer Unzufriedenheit darüber, nur temporär das jeweils "neue" zu  
beschreiben, sucht sie aus ihrem Forschungsfeld einen allgemeinen  
Begriff des Mediums und ihrer Disziplin zu gewinnen. Im Unterschied zum  
zweiten Typus der Medienwissenschaft geht sie also nicht  
quasi-strukturalistisch von einem technischen Begriff der Information,  
des Kanals und des Mediums aus, um daraus konkrete Beobachtungen zu  
abzuleiten, sondern beginnt phänomenologisch mit der Beobachtung eines  
als "Medien" zunächst nur heuristisch umrissenen Felds, um daraus  
Begriffe abzuleiten.

Hierzu zähle ich auch Winklers Medienwissenschaft und sein Vorschlag zu  
einer Definition des Begriffs "Medium". Mit McLuhan stimmt er darin  
überein, Medien als technisch, formal und tendenziell unsichtbar [also  
vom Menschen als zweite Natur angeeignet] zu begreifen, im Unterschied  
zu McLuhan jedoch schränkt er sie auf symbolische und kommunikative  
Techniken ein. Anders als eine an Shannon orientierte "harte"  
Medienwissenschaft durchbricht er das Sender-Empfänger-Schema zugunsten  
des Begriffs der "weichen" Vernetzung, der Berücksichtigung von  
"fluiden Praxen" über bloße "Niederlegungen" im  Sinne von Produkten  
und Technik hinaus, und der Vorstellung gewissermaßen eines  
hermeneutischen Zirkels zwischen Praxen und Niederlegungen. [Der auch  
dem Luhmannschen Postulat vom Medium als Austausch von Botschaften  
zwischen Mitgliedern eines Systems widerspricht.]

Winklers Medienbegriff ist diskret, nicht exklusiv – und schließt daher  
auch solche Definitionen des Mediums ein, die im Sinne der zweiten  
Medienwissenschaft metonymisch ist, also z.B. das Medium als  
Institution. (Der Nachteil hierbei ist eine Unschärfe des Worts  
Metonymie: Was ist gemeint, wenn vom Medium Radio die Rede ist?  
Funkübertragung oder Senderbürokratien? (Vgl. Luhmann "Der  
öffentlich-rechtliche Anstaltismus der Gesellschaft, Frankfurt 1999)

Problematisch bleibt auch die Unterscheidung von Medien und Zeichen  
bzw. Zeichensystemen. Winklers Text verwendet beide Begriffe parallel,  
ohne daß klar würde, wie genau Zeichen bzw. Zeichensysteme von Medien  
zu unterscheiden wären. Welchen Anspruch hat Medienwissenschaft, wenn  
sie zugleich auch Zeichenwissenschaft ist? Träte sie also an die Stelle  
der Semiotik, müßte dann z.B. Linguistik künftig eine Unterdisziplin  
der Netzwissenschaft sein?

aus: Matthias Weiss, "Diskrete Netze und Medien. Ein  
Differenzierungsversuch aus gesamtdeutscher Perspektive, Leipzig 2005
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/377425785X/qid=1105616010/ 
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jan 05
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